Fachartikel Energienetze , ICT , Infrastruktur

Energiewende-Check für Verteilnetze

Analyse

24.03.2023

Damit sich Verteil­netz­betreiber rechtzeitig auf die Energie­wende vorbereiten können, muss überprüft werden, welche Auswir­kungen die Verän­de­rungen auf ihr Netz haben. In einem Forschungs­projekt wurde ein Analyse-Ansatz entwickelt, mit dem die techni­schen Konsequenzen der Energie­wende für Verteil­netze effizient und aussage­kräftig ermittelt werden können.

Für viele Verteil­netz­betreiber ist die Frage noch nicht beantwortet, wie sich die Verhältnisse in ihrem Netz durch die Umsetzung der Energie­strategie ändern werden. Fragen, die sich in diesem Zusammen­hang stellen, sind beispielsweise:

  • Wie stark ist ein bestimmtes Verteil­netz­gebiet von den Entwick­lungen betroffen? Wie viel zusätzliche PV-Anlagen, Wärme­pumpen und Elek­tro­fahr­zeuge sind zu erwarten?
  • Welche davon unabhängigen Entwick­lungen sind im Netzgebiet zu erwarten, beispielsweise Zuwachs an Anschluss­nehmern?
  • Wie wirken sich diese Entwicklungen auf die Netz­infra­struktur aus? Welche Ströme, Spannungen und Leistungen werden im Netz auftreten und wie stark werden die Betriebsmittel dadurch belastet?

 

Diese Fragen lassen sich beantworten, indem für verschie­dene Szenarien Lastfluss­analysen durchgeführt werden. In einem Forschungs­projekt hat deshalb das Institut für Elektrische Energietechnik der FHNW gemeinsam mit Siemens Schweiz AG und der Arbon Energie AG einen Analyse-Ansatz entwickelt, mit dem die technischen Konse­quenzen der Energiewende für ein Verteilnetz effizient und aussage­kräftig aufgezeigt werden können.

Doch viele Verteilnetze stehen damit vor folgenden Heraus­forde­rungen:

  • Die technischen Parameter der Verteilnetze (z.B. genaue Leitungsdaten) und der Netzzustand (Spannungen und Ströme) sind in den meisten Fällen nur teilweise bzw. punktuell bekannt.
  • Aufgrund des oft noch nicht fertig umgesetzten Smart-Meter-Rollouts fehlen gemessene Lastprofile. Das genaue zeitliche Verbrauchsverhalten der Endkunden ist nicht bekannt.
  • Es ist auch nicht bekannt, wie sich die Verän­derungen im Rahmen der Energiewende konkret auf ein bestimmtes Verteilnetzgebiet auswirken werden, wo und wann wie viel Leistung hinzukommt oder wegfällt.

 

Zur ersten Heraus­forderung: Es führt kein Weg daran vorbei, aus den Unterlagen ein Netzmodell für Last­fluss­rechnungen zu erstellen. Mit geeigneter Software kann dies heute effizienter als bisher erledigt werden. Ein digitales Netzmodell ist nicht nur für die Analyse von Szenarien nötig, es ist auch eine Investition in die Zukunft. Auf Basis eines solchen Modells können beispielsweise Anschlussgesuche professionell bearbeitet werden, und die Netzplanung kann von genauen Analysen profitieren.

Zur zweiten Herausforderung: Hier haben jene Verteil­netz­betreiber einen grossen Vorteil, die bereits über ein flächendeckendes Smart Metering verfügen. Mittlerweile gibt es auch die Möglichkeit, mit synthetisch generierten Lastprofilen zu arbeiten, falls keine Smart-Meter-Daten vorliegen. Die Er­gebnisse sind aber weniger belastbar, wenn mit solchen Ersatzdaten gearbeitet wird. Zudem bedeutet die Erstellung der synthetischen Lastgänge einen gewissen Zusatz­aufwand, und es sind Daten zum Gebäudepark und weitere Angaben zu den Endkunden nötig.

Zur dritten Herausforderung müssen Szenarien der Ebene Bund auf das konkrete Netzgebiet heruntergebrochen werden. Grundsätzlich verfügen die Verteil­netz­betreiber über Infor­mationen über den bisherigen Zubau von Wärme­pumpen, PV-Anlagen und Elektro­lade­stationen, denn die Installation solcher Anlagen muss dem Netz­betreiber gemeldet bzw. vom Netzbetreiber genehmigt werden. Angaben zur Immatri­kulation von Elektro­fahrzeugen sind bei den lokalen Behörden vorhanden. Darauf basierend können die nationalen Zahlen auf eine Netzregion übertragen werden. Dies erfolgt mit Algorithmen, die neue Wärme­pumpen, PV-Anlagen und Ladestationen auf realistische Weise örtlich und in dem zu erwartenden Tempo im Netzmodell verteilen.

Der Einsatz von Last-Management- Systemen bei der Installation von Photovoltaik, Wärme­pumpen und Ladestationen ist heute typisch bei der Umsetzung von Ausbau­projekten, um die Anschluss­leistungen weiterhin einhalten zu können und zusätzliche Kosten für die Hausbesitzer zu vermeiden. Die Begrenzung auf definierte Anschlussleistungen ist ein Parameter, der in der Simulation vorgegeben wird.

Modell und Szenarien

Basis des Analysetools ist das bestehende Netz mit aktuellen Lastdaten. Das Netz wird als Last­fluss­modell abgebildet. Dafür sind neben der Netztopologie auch Leitungsdaten nötig. Um eine aussagekräftige Analyse zu ermöglichen, müssen den Netz­anschlüssen Lastgänge zugeordnet werden. Wenn keine Daten aus Lastgangmessungen vorliegen, können realitätsnahe, synthetisch generierte Lastgänge verwendet werden. Falls bereits eine Zielnetzplanung existiert, kann diese Datengrundlage für die Zukunfts­szenarien verwendet werden.

Zusätzlich zum Netzmodell, das den aktuellen Zustand abbildet, müssen die Szenarien der Energiewende in konkrete Lastgänge übersetzt werden, die dann im Netzmodell zu den bestehenden Lasten hinzugefügt werden.

Photovoltaik – Gemäss der Sonnenenergie-Statistik des BFE [1] wurden in den letzten Jahren jeweils mehrere 100 MW PV-Leistung zugebaut. Während 2020 noch knapp 500 MW neu gebaut wurden, kamen 2021 über 700 MW PV-Leistung ans Netz. 2021 wurde mit den installierten 3,7 GW eine Energie von 2,8 TWh erzeugt, was 4,9% des gesamten Stromverbrauchs entspricht. Das bisherige Wachstum reicht aber nicht aus, um die Kernenergie und die fossilen Brennstoffe zu ersetzen. Dafür wäre eine etwa 15-mal höhere PV-Kapazität als heute nötig, was einer Gesamtkapazität von 50 GW und einem jährlichen Zubau von 1,6 GW entspricht [2]. Gemäss Energieperspektive sollte die gesamte jährliche Stromerzeugung aus PV-Anlagen bis zum Jahr 2050 bis zu 45 TWh erreichen.

Wärme­pumpen – Für die Raumheizung werden fossil gefeuerte Systeme u.a. durch elektrisch betriebene Wärme­pumpen ersetzt. Die Verkaufszahlen von Wärme­pumpen stiegen deutlich an: von 18’300 Anlagen im Jahr 2015 auf 33’700 Anlagen in 2021 [3]. 85% der verkauften Anlagen haben eine thermische Nennleistung zwischen 5 und 20 kW, was rund 1,5 bis 7 kW elektrischer Nennleistung entspricht. Jährlich kommt eine zusätzliche elektrische Wärme­pumpen­leistung in der Grössenordnung von 150 MW ans Netz. Mit einer für Wärme­pumpen typischen Betriebsdauer von 2000 h/Jahr entspricht das einer Energie von 300 GWh/Jahr.

Ladestationen für Elektroautos – Der Absatz von Fahrzeugen mit alternativen Antrieben ist seit 2015 stark gestiegen. Anfang 2022 wurden bereits doppelt so viele rein elektrisch betriebene Autos immatrikuliert als im Vergleichs­zeitraum 2021, bei den Plug-in- Hybrid­fahr­zeugen war der Zuwachs etwa ein Drittel [4]. Insgesamt sind mittlerweile etwa ein Drittel der neu angemeldeten Fahrzeuge mit einer Lademöglichkeit aus dem Stromnetz ausgestattet und im Rahmen der Bundes­initiative Roadmap 2025 wird davon ausgegangen, dass diese Zahl bis 2025 auf 50% steigt.

Diese Zahlen zeigen deutlich auf, wie stark alle drei Bereiche wachsen – Photovoltaik, Wärme­pumpen und Elektro­fahrzeuge.

Systemmodell

Im Systemmodell verteilt ein Algorithmus je nach Szenario PV-Anlagen, Wärme­pumpen und Elektro­lade­stationen im Netz.

Für die PV-Anlagen werden typische Systemdaten wie Nennleistung und Ausrichtung der Anlagen gemäss den aktuellen Statistiken gewählt und Anschlüssen von passenden Privat- und Gewerbekunden zugeordnet. Die Erzeugung dieser Anlagen wird als Jahresprofil anhand von Solar­strahlungs­daten berechnet.

Für die Bestimmung des Ladebedarfs von Elektro­fahrzeugen werden Verbrauchsdaten der zehn meistverkauften Fahrzeugmodelle herangezogen. Um das zeitliche und örtliche Lade­verhalten der Fahrzeuge abzubilden, wurden auf Basis von Daten aus den Niederlanden Wahr­schein­lich­keits­vertei­lungen bestimmt [5]. In einem sechsstufigen Algorithmus wird für jedes einzelne Fahrzeug bestimmt, wann und wo es wie viel Energie aus dem Netz bezieht (Bild 1).

Zur Bestimmung des Stromverbrauchs der Wärme­pumpen verfügt das Systemmodell über ein Modul, welches ein Wärmemodell von Gebäuden mit einem Modell für Wärme­pumpen und Warm­wasser­speicher kombiniert. Dabei werden unterschiedliche Typen und Grössen von Anlagen und Gebäuden berücksichtigt.

Die so generierten Erzeugungs- und Lastprofile für Photovoltaik, Wärme­pumpen und Elektro­fahrzeuge werden im Netzmodell zusätzlich zu den bestehenden Lasten eingefügt. Dabei können Photovoltaik, Wärme­pumpen und Elektro­lade­stationen separat oder in beliebigen Kombinationen hinzugefügt werden. Dies ermöglicht es, die Auswirkungen der Entwicklungen nicht nur gesamthaft, sondern auch individuell beurteilen zu können. Grundsätzlich wird in den Simulationen die Nutzung von Last­mana­gement­systemen bei Mehr­fami­lien­häusern berücksichtigt sowie die heutige Anschluss­leistung der Gebäude, die typisch nicht überschritten werden soll.

Anwendung bei der Arbon Energie AG

In Zusammenarbeit mit Arbon Energie wurde der Energie­wende-Check für zwei Teilnetze durchgeführt, wobei jedes Teilnetz einer Trafostation mit dem darunter­liegenden 400-V-Verteilnetz entspricht. Ein Last­fluss­modell dieser Teilnetze war bei Arbon Energie dank eines Vor­gänger­projektes bereits zu einem grossen Teil vorhanden, es mussten lediglich ein paar Details überprüft und ergänzt werden.

Dank eines komplett umgesetzten Smart-Meter-Rollouts verfügt die Arbon Energie AG über Lastgang­mes­sungen aller Netz­anschluss­nehmer seit 2015. Somit konnte das Grundmodell für die Analysen mit geringem Aufwand erstellt werden.

Zusätzlich zum Grundmodell wurden die Szenarien für den PV-Ausbau, neue Wärme­pumpen und Elektro­ladestationen für das Netzgebiet quantifiziert und wie beschrieben in konkrete Lastgänge transformiert.

Bild 2 zeigt als Beispiel, wie ein Algo­rithmus neue PV-Anlagen im Netz verteilt. Im dargestellten Szenario wurden zusätzlich zu den heute bestehenden PV-Anlagen 27 weitere Anlagen in den Grössen 10 kW (typisch für Ein­familien­häuser) und 24 kW (typisch für grössere Gebäude) hinzugefügt.

Auf ähnliche Weise wurden auch zusätzliche Wärme­pumpen und Elek­tro­lade­stationen von typischer Grösse passenden Netzanschlüssen zugeordnet.

Das Tool für den Energiewende-Check berechnet Tausende von Netzzuständen mit verschiedenen Kombi­nationen aus Photovoltaik-Zubau, neuen Wärme­pumpen und Lade­stationen für Elektro­fahr­zeuge und berücksichtigt darüber hinaus die Anwendung von einfachen Last­steuer-Mechanismen, wie z.B. eine zentral definierte Einschränkung der Fahrzeug­ladungen. Bild 3 zeigt als Beispiel die Ergebnisse für die Belastung eines Trans­formators sowie die Spannungs­werte an einigen Knoten für verschiedene Szenarien mit Photovoltaik (PV) und Elektro­fahrzeugen (EF) im Vergleich zum Referenzfall. Während sich im Szenario mit aus­schliess­lichem PV-Ausbau die maximale Trafolast nicht nennenswert ändert, haben alle Szenarien mit Ausbau der Elektro­mobilität einen deutlichen Einfluss auf die Trafolast. Diese kommt in einzelnen Stunden nahe an die Nenn­schein­leistung von 630 kVA heran. Durch den Einsatz einer Last­steuerung können die höchsten Trafo­leis­tungen auf ein unkritisches Niveau reduziert werden. In allen analysierten Fällen bleiben die höchsten und tief­sten Spannungen im Netz auf einem unbe­denklichen Niveau innerhalb der geltenden Normen.

Die Ergebnisse für das hier beispielhaft dargestellte Teilnetz fallen weitgehend unproble­matisch aus. Aber die gleichen Analysen zeigen für ein anderes Teilnetz von Arbon Energie AG ein weniger beruhigendes Bild. Sofern die Entwicklungen in Sachen PV, Wärme­pumpen und Elektro­mobilität in der erwarteten Intensität und Geschwin­digkeit stattfinden, wird dort in absehbarer Zeit eine Verstärkung der Trafo­station notwendig. Generell hat sich gezeigt, dass von allen drei Faktoren – Photovoltaik, Wärme­pumpen und Elektro­mobilität – die Elektro­mobilität mit Abstand die höchsten Ansprüche an das Netz stellt.

Fazit und Ausblick

Mit der Energiewende kommen grosse Verände­rungen auf die Verteilnetze zu. Genaue Vorhersagen sind unmöglich, aber anhand von Szenarien lässt sich quantitativ abschätzen, was konkret auf ein Verteil­netz zukommen kann. Damit erhalten die Verteil­netz­betreiber eine belastbare Basis, um Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.

Verteil­netz­betreiber, welche bereits über ein Netzmodell und flächen­deckende Last­gang­daten verfügen, sind diesbezüglich im Vorteil. Dank moderner Tools, mit denen fehlende Modelle und Daten effizient generiert werden können, sind die beschrie­benen Analysen aber auch bei schlechterer Datenlage möglich.

[1] Bundesamt für Energie, Statistik Sonnenenergie – Referenzjahr 2020, 2021.

[2] Swissolar, 11-Punkte-Programm der Solarwirtschaft, 2022.

[3] Statistik Fachvereinigung Wärmepumpen Schweiz FWS.

[4] Auto Schweiz, Entwicklung der Marktanteile alternativer Antriebe, Statistiken.

[5] ElaadNL, «Open Datasets for Electric Mobility Research».

Autor
Martin Geidl

ist Leiter des Instituts für Elektrische Energietechnik.

  • FHNW, 5210 Windisch
Autor
Nikolaos Efkarpidis

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Elektrische Energietechnik.

  • FHNW,5210 Windisch
Autor
Dr. Ingo Herbst

ist Business Development Manager bei Siemens Smart Infrastructure.

  • Siemens Schweiz, 8047 Zürich
Autor
Silvan Kieber

ist Geschäftsführer der Arbon Energie AG.

  • Arbon Energie AG, 9320 Arbon

Kommentare

Stefan Wilker,

Die Resultate des Artikels stammen aus dem Projekt SONDER. Das Projekt wurde im Rahmen der gemeinsamen Programmplanungsinitiative ERA-Net Smart Energy Systems mit Unterstützung durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont 2020 der Europäischen Union unter der Fördervereinbarung Nr. 775970 gefördert.

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