Fachartikel Energienetze , Infrastruktur

Die erste 145-kV-BlueGIS in der Schweiz

100% F-Gas-freie Lösung

07.08.2024

Lange war SF6 nicht aus Schalt­anlagen weg­zu­denken. Getrieben vom Wunsch, dem Klima­wandel ent­gegen­zuwirken, befinden wir uns in einer Transit­phase zu umwelt­freund­licheren Alter­nativ­gas­lösungen. Eine voll­kommen F-Gas-freie Form wird bereits als Clean Air für Hoch­span­nungs­produkte angewendet. Auch in der Schweiz sind erste Schalt­anlagen im Betrieb.

Die erste 145-kV-BlueGIS der Schweiz konnte 2023 für den Netzbetreiber Primeo Energie im Unterwerk Therwil in Betrieb genommen werden. Damit markiert das UW Therwil einen Meilenstein auf dem Weg zu klima­freund­lichen Netzen. Die vollständig F-Gas-freien Schalt­anlagen des Blue-Portfolios von Siemens Energy beinhalten anstatt des klima­schäd­lichen SF6 ein umwelt­freund­liches Gemisch aus natürlichen Gasen.

Clean Air, d.h. trockene synthetische Luft, als Isolier­medium bietet einige Vorteile gegenüber F-Gasen: Es ist frei aus europäischer Herstellung verfügbar, umwelt­verträglich und kann bedenkenlos an die Umwelt abgegeben werden. Clean Air als Isoliergas in Kombination mit der Vakuum-Schalt­techno­logie ist ungiftig und gefährdet die Umwelt nicht.

Die F-Gas-freie Lösung hat auch Primeo Energie überzeugt. Das Unter­nehmen gewichtet die Nach­haltig­keit bei der Planung des neuen Unterwerks hoch und konnte mit der Hoch­span­nungs-Schalt­anlage 8VN1 BlueGIS dieses Ziel erfüllen [1].

Projektablauf

Das Projekt begann mit der Unterzeichnung des Vertrags für die erste 145-kV-BlueGIS der Schweiz Mitte 2021. Ein wichtiger Meilenstein war der erfolgreiche Factory Acceptance Test im September 2022 im Berliner Schaltwerk. Mit dieser Lieferfreigabe konnten die bereits im Werk vollständig vormon­tierten, ver­drah­teten und geprüften Felder auf die LKWs verladen werden. Im Dezember 2022 wurden die Felder unter winter­lichen Bedin­gungen in Therwil ins Unterwerk eingebracht. Im neu errichteten Gebäude begann direkt, gemeinsam mit Primeo Energie und einem lokalen Montage­partner, die punkt­genaue Ausrichtung und Aufstellung der Felder sowie die Montage- und Inbetrieb­setzungs­tätig­keiten.

Die Gase Clean Air und Helium wurden lokal beschafft. Das sich in der Anlage auf Trans­port­druck befindliche Clean Air konnte frei abgelassen werden, bevor die Gasräume zur Dicht­heits­prüfung mit Helium befüllt wurden. Nach der Dicht­heits­prüfung und Evakuierung der Gasräume wurden diese mit Clean Air auf den vorgeschriebenen Druck gefüllt. Nach Abschluss der Montage- und Inbetrieb­setzungs­arbeiten führte die FKH (Fach­kommission für Hoch­span­nungs­fragen) die Hoch­span­nungs­prüfung durch. Mit dieser finalen bestan­denen Prüfung konnte die Anlage im Februar 2023 zum Betrieb übergeben werden.

Kompaktheit und LPIT im Unterwerk Therwil

Clean-Air-Anlagen können kompakt genug sein, um innerhalb bestehender Umspann­werke aufgebaut zu werden. Da Clean Air im Vergleich zu SF6 weniger spannungsfest ist, wird für die gleiche Spannungs­festigkeit ein grösseres Volumen an Clean Air benötigt. Dieser Grössen­zuwachs kann durch die Anwendung von inno­vativen Techno­logien wie digitalen Mess­wandlern kompensiert werden. Dadurch kann die Grösse und die benötigte Material­menge der Schalt­anlage verringert werden und der ökologische Fussabdruck wird weiter reduziert (Bild 1). Unter anderem deshalb hat sich Primeo Energie fürs UW Therwil für eine BlueGIS mit LPIT-Lösung (Low Power Instrument Transformer) entschieden. Dieser wurde über eine digitale Schnittstelle per Prozessbus an die lokale Steuerung angeschlossen.

Der LPIT für GIS kombiniert die elektronische Strom- und Span­nungs­messung. Dabei werden für die Strom­messung Rogowski-Spulen und für die Span­nungs­messung kapazitive Feldsonden eingesetzt. Beide Sensoren sind in derselben Giess­harz­durch­führung integriert, die mit einer Anschlussbox für jede Phase versehen ist. Über ein Netz­werk­kabel werden die analogen Signale von der Anschlussbox an die Aus­wertungs­einheit (Siprotec 5 / IO240) übertragen, in der die Signale digitalisiert und die Messwerte ausgewertet werden.

LPIT ist flexibel, da die Strom- und Span­nungs­messungen leicht durch Anpassung der Para­metrie­rung vorgenommen werden können. Dies ist ein grosser Vorteil, da die Anlage zu Beginn nur mit 50 kV und später mit 145 kV betrieben wird. Zudem liefern die LPIT-Sensoren genauere Mess­ergebnisse, keine Sättigung (im Gegensatz zu her­kömm­lichen Strom­wandlern) und keine Ferro­resonanz­effekte (im Gegensatz zu kon­ventio­nellen Span­nungs­wandlern).

UW Uptown Basel

Nach Therwil konnte bereits die zweite 145-kV-BlueGIS für die Schweiz zusammen mit Primeo Energie geliefert und installiert werden. Im Oktober 2023 wurde die finale Hoch­span­nungsprüfung im UW Uptown Basel in Arlesheim bestanden, und die Anlage (Bild 2) konnte an den Endkunden UptownBasel Infra AG zum Betrieb übergeben werden.

Aufbau der 145-kV-BlueGIS

Die BlueGIS 145 kV ist eine kompakte, gasisolierte Hoch­span­nungs­schalt­anlage mit einer Kurz­schluss­strom­festigkeit von bis zu 50 kA. Das Herzstück der Anlage ist der Leistungsschalter mit einer Vakuum-Unterbrechereinheit für das Schalten und Unterbrechen von Lastströmen, angetrieben von einem robusten Feder­speicher­antrieb, der von den SF6-Produkten bekannt ist. Der Antrieb kann als Gemeinschafts- oder als Einzelpolantrieb ausgeführt werden. Ein integrierter Vor-Ort-Schaltschrank enthält das Steuerungs- und Überwachungs-Equipment. Die Anlage kann mit zwei Sammel­schienen ausgestattet werden, die jeweils mittels eines Trenn- und eines Erdungsschalters die sichere Wartung und das isolierte Schalten einzelner Anlagenteile ermöglichen. Strom- und Span­nungs­wandler sind für die präzise Messung und Übertragung elektrischer Parameter integriert. Ein Abgangsmodul mit einem weiteren Trenn- und Erdungs­schalter sowie einem Schnell­erdungs­schalter und einem Kabel­anschluss­modul ermöglichen die flexible Anbindung von Netzanschlüssen.

Die Vakuum-Schaltröhre

Die Vakuumröhrentechnologie ist integraler Bestandteil der Leistungs­schalter von Siemens Energy, denn sie ist zuverlässig und leistungsfähig. Die Technik ist seit mehr als vier Jahrzehnten im Mittel­span­nungs­bereich und seit 2010 in der Hoch­span­nung implementiert. Das dreipolig aufgebaute Schalt­system besteht aus jeweils einer Vakuum-Schaltröhre.

Dank der hermetisch abgeschlossenen Vakuum-Unter­brecher­einheit wird jeglicher Einfluss von Zersetzungs­produkten im Leistungs­schalter vermieden. Dies ermöglicht eine konstante Unter­brechungs­leistung bei Bemes­sungs­nenn- und Kurz­schluss­strömen über den gesamten Lebenszyklus. Vakuumschalter (Bild 3) sind mechanisch sehr zuverlässig und haben im Vergleich zu SF6-Schalt­geräten eine längere elektrische Lebensdauer. Die Technologie ist zudem perfekt für niedrige Umgebungs­tempe­raturen geeignet, da sich das Schaltmedium in diesen Fällen nicht verflüssigt. Die Vakuum­röhren sind wartungsfrei dank der «sealed-for-life»-Technologie, senken dadurch Betriebskosten und eliminieren Treib­haus­gas-Emis­sionen, womit diese Lösung eine umwelt­freund­liche Alter­native zu her­kömm­lichen Schalt­techno­logien darstellt.

Optimale Lösung für die Bahnen mit 16,7 Hz

Die für 50-/60Hz-Anwen­dungen verfügbare Vakuum­technologie kann auch für 16,7-Hz-Anforderungen verwendet werden. Im Mai 2024 wurde die externe Schalt­leistungs­prüfung zusammen mit der SBB im Kema-Labor in Arnhem erfolgreich durchgeführt. Dieses macht die 145-kV-BlueGIS auch zu einer nachhaltigen Lösung für die 2-phasigen Bahnanwendungen (u. a. relevant in Deutschland, Österreich und Schweiz).

Lebenszyklusbetrachtung

Beim Ziel eines Null-Emissions-Netzes ist es wichtig, die Auswirkungen der Produkte auf das Klima über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg zu betrachten, wobei die Auswirkungen der Stromverluste in der Fabrik, des Transports, der Material- und Gasproduktion, des Recyclings am Ende des Lebenszyklus und viele andere Faktoren berücksichtigt werden müssen.

Abgesehen von der obersten Priorität, das Treibhauspotenzial der Aktivitäten zu reduzieren, ist die Reduzierung der Lebens­zyklus­kosten ein weiteres Haupt­anliegen der Strom­netz­betreiber. Dem kommt die Anwendung von Clean Air als Isoliergas besonders entgegen, denn es besteht aus 80% Stickstoff und 20% Sauerstoff, ist gereinigt und frei von Feuchtigkeit und kann ohne schädliche Auswir­kungen auf Menschen und Umwelt in die Atmosphäre abgelassen werden. Eine Aufbereitung wie bei F-Gasen ist nicht erfor­derlich. Bei F-Gasen müssen Netz­betreiber den Behörden mitteilen, wie viel sie verbrauchen, welche Leckagen auftreten usw. Ausserdem muss die Ausrüstung mit F-Gasen häufig überprüft werden. All dies ist bei Clean-Air-Anlagen nicht nötig. Daher sind die Lebens­zyklus­kosten niedriger als bei SF6 und anderen F-Gas-Lösungen.

Weitere Details zur Anwendung von Clean Air lassen sich in anderen Publi­kationen finden [2-3] sowie in einem über­sicht­lichen Vergleich aktueller F-Gas-Alternativ­lösungen [4].

Die EU F-Gas-Verordnung

Die Gesetzgeber weltweit spielen eine wichtige Rolle bei der Unter­stützung und Beschleu­nigung des Ausstiegs aus F-Gasen. Bei der Über­arbei­tung der EU-F-Gas­verord­nung wurden strengere Beschrän­kungen für F-Gase gefordert [5]. Im Oktober 2023 wurde eine vorläufige Einigung über die schrittweise Abschaffung von F-Gasen (GWP ≥ 1) in neuen Hoch­span­nungs­schalt­anlagen bis 2028/2032 erzielt. Im Januar 2024 haben das Europäische Parlament und der Europäische Rat ihre vorläufige Einigung angenommen. Diese EU-Verordnung gibt allen Schalt­anlagen­herstellern und Netzbetreibern einen klaren technischen Rahmen und damit Investitions­sicherheit. Nun liegt es an den Herstellern und Netzbetreibern, die kommenden Übergangs­phasen zu nutzen, um die Abkehr von allen F-Gasen und die Hinwendung zu einer sauberen Strom­über­tragung gemeinsam voranzutreiben.

Ein Überblick über die Restrik­tionen und Aus­nahme­regelungen der EU-Regulation findet sich im Siemens Energy EU F-gas regulation factsheet [6] und beim deutschen Umwelt­bundesamt [7].

Weitere Entwicklungen

Siemens Energy arbeitet seit einigen Jahren an seiner Blue-Technologie und konzentrierte sich zunächst auf Spannungs­ebenen bis 72,5 kV. In dieser Spannungs­ebene wird beispiels­weise die 8VM3 BlueGIS angeboten, die sehr kompakt ist und anschluss­fertig geliefert wird.

Die Blue-Technologie ist heute bis 145 kV ausgereift. Das Blue-Portfolio wird derzeit für das gesamte Hoch­span­nungs­schalt­anlagen-Portfolio von Siemens Energy bis zur höchsten Über­tragungs­ebene eingeführt. Aktuell liegt der Fokus auf der Entwicklung von 420-kV-Produkten. Ab Ende 2026 ist die Verfüg­barkeit der 420-kV-Variante und ab Ende 2028 die der 245-kV-Schalt­anlage des Blue-Portfolios geplant.

Siemens Energy hat weltweit über 4200 Leistungs­schalter und gasisolierte Schalt­anlagen aus dem Clean Air Blue-Portfolio unter Vertrag. Davon sind 1500 in Betrieb und haben bis heute 4,4  Millionen Tonnen CO2-äquivalente Emissionen eingespart. Die Technologie ist bereits gut etabliert und zuverlässig. Siemens Energy hat über 50 Jahre Erfahrung in der Entwick­lung von elektrischen Schalt­anlagen und arbeitet seit über 40 Jahren an Vakuum­schal­tungen und Luft­isolierung. Ziel ist es, bis 2030 ein vollständig F-Gas-freies Portfolio zu haben – dafür hat das Unternehmen über 60 Millionen Euro in eine neue Produk­tions­stätte in Berlin investiert. Immer mehr Firmen und Anbieter folgen diesem Beispiel. Schliesslich gibt es kein Patent oder Monopol auf Gase natürlichen Ursprungs.

Referenzen

[1] Primeo-Energie Therwil, 17.6.2022.

[2] Karsten Juhre et al., Umwelt-, Gesundheits- und Arbeitssicherheitsaspekte sowie Gashandling SF6-freier gasisolierter Hoch­span­nungs­schalt­anlagen, VDE 2020.

[3] Mark Kuschel et al., Entwicklungsstand, Vor-Ort-Erfahrungen und Ausblick zu SF6-freien Hoch­span­nungs­schalt­anlagen, VDE 2020.

[4] Michael Walter, «Schalt­anlagen mit alternativen Isoliergasen», Bulletin Electrosuisse 1/2024, S. 40.

[5] EU F-Gas Regulation, 20.02.2024, Regulation – EU – 2024/573 – EN – EUR-Lex (europa.eu)

[6] Siemens Energy EU F-gas regulation factsheet, 01.03.2024.

[7] Umweltbundesamt, Schalt­anlagen mit fluorierten Treibhausgasen – Übersicht über die Regelungen der Verordnung (EU), 1.3.2024.

Autor
Simon Averkamp

ist Sales- and Project Manager.

  • Siemens Energy AG, 8047 Zürich
Autor
Bruno Herzog

ist Head of Grid Techno­logies bei Siemens Energy.

  • Siemens Energy AG, 8047 Zürich

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